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Wassili Grossman, Armenische Reise
Wunderbar und bewegend.
Es ist das Jahr 1961, Wassili Grossman rattert im Zug nach Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt. Tief getroffen von der Beschlagnahmung seines Jahrhundertromans Leben und Schicksal reist er durch Armenien. Auf der Suche nach neuem Atem in der Ferne findet er unter den Trümmern der Geschichte des 20. Jahrhunderts Menschlichkeit, Wärme und alles verändernde Eindrücke. Er beginnt zu schreiben.
Die Armenische Reise zeichnet ein Bild der Person Grossman hinter dem Verfasser der großen Erinnerungsromane über die Schlacht von Stalingrad, die Shoah und die Hungersnot in der Ukraine. In seinen feinsinnigen Reisenotizen zeigt sich der große Nachfolger Tolstois als ein hartnäckiger, kraftvoller Denker mit Sinn für Witz und wohltuender Bescheidenheit.
In diesen Streifzügen eines wahrhaften Humanisten wechseln Bekenntnisse, Essays und Anekdoten einander spielerisch ab. Jede Begegnung bringt eine Geschichte mit sich und so setzt sich die Historie dieses Landes, die Repressionen der 1930er Jahre, der Stalinkult, der Zweite Weltkrieg, die Massaker an den Armeniern in der Türkei, die nationalsozialistischen Verbrechen, wie ein Spiegelbild der Erinnerung zusammen. Die Armenische Reise ist nicht nur eine sehr persönliche Begegnung mit dem Schriftsteller Grossman, es ist das spontane Zeugnis eines brillanten Beobachters – voller Rätsel und einer zärtlichen Hingabe an ein Land.
Wassili Grossman, Armenische Reise, Claasen Hardcover (https://www.ullstein.de), 208 Seiten, ISBN 9783546100939, 24 Euro.
Hugo Loetscher, So wenig Buchstaben und so viel Welt
Gut geschrieben, und inspirierend.
Hugo Loetscher war ein Schriftsteller, der »erfahren wollte, was mir als Welt zugefallen war«. Von der Schweiz aus brach er in alle Himmelsrichtungen auf, oft im Auftrag von Zeitungen und Magazinen, für die er kenntnis- und geistreiche, literarisch funkelnde Essays und Reportagen schrieb. Loetschers Blick für die Gleichzeitigkeiten und Mischformen einer globalisierten Welt ist ungemein modern, sein Stil immer originell und überraschend. Dieser Band ist ein wunderbarer Ausgangspunkt, um einen der großen Schweizer Autoren und Publizisten neu- oder wiederzuentdecken.
Hugo Loetscher, So wenig Buchstaben und so viel Welt, Diogenes Hardcover (https://www.diogenes.ch), 480 Seien, ISBN 978-3-257-07276-1, 29 Euro.
Peter Gritzmann, Plausibel, logisch, falsch Auf den Holzwegen des gesunden Menschenverstandes
Sehr lohnende Lektüre - eine vergnügliche Abenteuerreise zu den Fallstricken unserer Erkenntnis.
So, wie es optische Täuschungen gibt, so gibt es auch logische. Die 24 Geschichten dieses unterhaltsamen, leicht lesbaren Buches stammen aus der Welt der alltäglichen Entscheidungen, etwa der Medizin, der politischen Wahlsysteme, der Werbung, der Corona-Impfung oder der Schlankheitsdiäten. Was auf den ersten Blick völlig einleuchtend zu sein scheint, kann dennoch komplett in die Irre führen. Plausibel, logisch, falsch zeigt uns, wie wir Pseudo-Wahrheiten durchschauen, und gibt uns die Mittel an die Hand, die Holzwege des gesunden Menschenverstandes zu vermeiden.
Peter Gritzmann, Plausibel, logisch, falsch, C.H.Beck Hardcover (https://www.chbeck.de), 217 Seiten, ISBN 978-3-406-81425-9, 22 Euro.
Jakob Thomä, Das kleine Buch der großen Risiken Von Atombombe bis Zombieapokalypse
Amüsant, unterhaltsam, nachdenklich machend. Warum es wahrscheinlicher ist, dass wir einem Zombie begegnen, als von einem Hai gefressen zu werden. Wir haben wenig Ahnung davon, welchen Risiken wir tagtäglich ausgesetzt sind. Der Think-Tank-Begründer Jakob Thomä nimmt uns mit auf eine spannende Reise zu den größten Gefahren unserer Zeit und erklärt, was uns nachts wirklich wachhalten sollte.
Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Außerirdische die Erde angreifen? Wie groß das Risiko für einen Asteroideneinschlag oder Supervulkanausbruch ist? Oder ob die Matrix wirklich existiert? Täglich hören wir von diesen möglichen Ereignissen und ihren Folgen. In seinem neuen Werk untersucht Jakob Thomä von A wie Atombombe bis hin zu Z wie Zombieapokalypse die 26 kleineren und größeren Risiken für unsere Zivilisation. Mithilfe wissenschaftlicher Fakten und unterhaltsamer Anekdoten führt er uns vor Augen, wie gewiss es ist, dass uns ein Schwarzes Loch verschluckt oder »The Walking Dead« Realität wird – und was wir im Zweifel dagegen tun können. Humorvoll, aufschlussreich und dazu charmant illustriert.
Jakob Thomä, Das kleine Buch der großen Risiken, Klett-Cotta Hardcover (https://www.klett-cotta.de), 224 Seiten, ISBN 978-3-608-96601-5, 22 Euro.
Michael Maar, Hexengewisper
Aufregend andere Sichtweise! Der Literaturkritiker und Bestsellerautor Michael Maar zeigt uns Märchen in ganz neuem Licht.
Märchen erzählen von den Urdingen und Tabus, verstecken das Unaussprechliche in Geschichten. Dabei bewahren sie stets ihr Geheimnis – was sie unsterblich macht. Michael Maar geht diesen Geschichten auf den Grund: Wie in den «Kinder- und Hausmärchen» der Brüder Grimm oft schon zu Beginn nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch die simpelsten Gesetze der Mathematik suspendiert werden; warum ihre demonstrative Grausamkeit nur vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges zu verstehen ist; dass «Rotkäppchen» von weiblicher Geschlechtsreife und «Hänsel und Gretel» auch von einem wichtigen Übergangsritus erzählt; warum Hans Christian Andersens «Die Kleine Meerjungfrau» nicht wie die Volksmärchen ein uraltes menschliches, sondern ein ganz privates Tabu verhandelt; und wo Scheherazades Erzählungen aus «Tausendundeiner Nacht» noch bei Marcel Proust nachklingen – all das erfahren wir in Maars Essay.
Michael Maar, Hexengewisper, Rowohlt Taschenbuch (https://www.rowohlt.de), 80 Seiten, ISBN 978-3-499-01418-5, 12 Euro.
Michael Maar, Leoparden im Tempel Portraits großer Schriftsteller
Leicht zu lesen, gehaltvoll, verflucht gut geschrieben! Ein Streifzug durch die Weltliteratur, mit feiner Ironie und reich an überraschenden Einsichten.
Jedes große Werk der Literatur birgt Rätsel und Geheimnisse, und nicht selten findet sich der Schlüssel zur Lösung genau an jenem Punkt, an dem sich Leben und Schreiben ihrer Schöpfer berühren. In zwölf meisterhaften Portraits, von Hans Christian Andersen bis hin zu Jorge Luis Borges, spürt der Literaturkritiker und Bestsellerautor Michael Maar diese sensiblen Punkte auf – und stößt dort auf ganz Unerwartetes, manchmal Erheiterndes, aber ebenso auf innere Spannungen und Abgründe. Was bedeutete es für diese Schriftsteller, die allesamt auch Getriebene waren, wenn, wie es bei Kafka so bild- wie rätselhaft heißt, «die Leoparden in den Tempel einbrechen und die Opferkrüge leer saufen»? Wer wissen will, wie eng Thomas Mann mit dem Teufel verbandelt war, warum Marcel Proust kein Neujahrsgeschenk duldete, warum Virginia Woolf unterm Einfluss zweier Monde stand und Nabokovs Lolita Jungentracht trägt, woran Kafkas Käfer krepierte und was Robert Musil mit dem Giftzwerg Canetti verband: Herzlich willkommen.
Michael Maar, Leoparden im Tempel, Rowohlt (https://www.rowohlt.de), 144 Seiten, ISBN 978-3-498-00398-2, 22 Euro.
Jaroslav Rudiš, Weihnachten in Prag
Wunderbare magische Weihnachtsgeschichte und Liebeserklärung an Prag und die Mythen und Geschichten der Stadt. Bei seinem Weihnachtsspaziergang wird Jaroslav Rudiš von seinem besten Freund Jaromír 99 begleitet, der diese Wanderung durch das verschneite Prag illustriert hat.
Weihnachten, Heiligabend. Wahrscheinlich der ruhigste Tag des Jahres in Prag. Jaroslav Rudiš zieht durch die Metropole an der Moldau. Es schneit, es ist kalt, und die Straßen sind leer gefegt. Und doch begegnen einem überall die alten und neuen Geschichten dieser Stadt. Rudiš wartet auf seine Freunde und kehrt in der Zwischenzeit in einige Wirtshäuser ein. Hier trifft er bei frisch gezapftem Bier drei einsame Gestalten: Kavka (genannt: Kafka), den König von Prag und eine Italienerin aus Mailand. Sie alle erzählen von diesem besonderen Tag des Jahres. Von leuchtenden Birnen und wärmenden Händen, von Karpfen in Gurkengläsern, aus deren Augen noch die verstorbenen Bewohner der Stadt glotzen, und vom Christkind, das jedes Jahr in dieselbe Kneipe kommt und sich mit der ratternden Straßenbahn wieder davonstiehlt.
Jaroslav Rudiš, Weihnachten in Prag, Luchterhand (https://www.penguin.de), 96 Seiten, ISBN 978-3-630-87754-9, 16 Euro.
Hermann Burger, Zauberei und Sprache
Stilistisch brillant, inhaltlich eine Wundertüte, jede Zeile überraschend und beachtlich.
Zum 80. Geburtstag des Aargauer Schriftstellers Hermann Burger (1942-1989) erscheint eine Leseausgabe, die Burgers sämtliche Texte zur Zauberei versammelt. Der Band zeigt das für Burgers Schaffen fundamentale Thema der Magie auf und ermöglicht auf diese Weise ein besseres Verständnis seiner Poetik und Poetologie. Darunter sind zwei bislang unbekannte Texte aus Burgers Nachlass. Außerdem finden sich 35 Burger-Porträts der Fotografin Isolde Ohlbaum in dieser Ausgabe.
In einem Nachruf auf Hermann Burger schrieb Marcel Reich-Ranicki: »Hermann Burger war ein Artist, der immer aufs Ganze ging, der sich nicht geschont hat. Er war ein Mensch mit einer großen Sehnsucht nach dem Glück. Die deutsche Literatur hat einen ihrer originellsten Sprachkünstler verloren«.
Hermann Burger, Zauberei und Sprache, Nagel & Kimche (https://www.harpercollins.de), 304 Seiten, ISBN 9783312012602, 30 Euro.
Alexander Pechmann, Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Kurzweilig, informativ und gut recherchiert. Ein wahres Leseabenteuer für Bücherfreunde.
Gibt es irgendwo auf der Welt eine Bibliothek, in der alle Bücher versammelt sind, die nie erscheinen konnten? Was bringt Schriftsteller dazu, ihre Werke zu verbrennen? Und wie kann es passieren, dass Manuskripte geklaut werden und für immer verschwinden? Mit literarischem Spürsinn lässt Alexander Pechmann sie in diesem Buch entstehen und erzählt von all den Werken, die durch Unfälle und Zufälle, mit Absicht oder sogar aus Versehen vernichtet wurden oder verloren gingen. In zahlreichen Anekdoten werden ihre Schicksale und Geheimnisse hier erzählt: von Dostojewskij bis Flaubert, von Thomas Mann bis Balzac, von Joyce bis Kafka.
In der Bibliothek der verlorenen Bücher sind auch die Texte verwahrt, die niemals geschrieben wurden der von denen niemals jemand erfahren sollte. Wie auf einer kleinen Abenteuerreise durch die Literaturgeschichte und Bücherwelt begegnet man einer bizarren Bücherkarawane im alten Persien, einer barbarischen Schreibmaschine, Hemingways Reisetasche, Kammerjungfern und Bauchrednern, Puschkins Hasen und Herman Melvilles verlorener Insel.
Alexander Pechmann, Die Bibliothek der verlorenen Bücher, Schöffling Verlag (https://www.schoeffling.de), 208 Seiten, ISBN 978-3-89561-067-7, 24 Euro.
Botho Strauß, Lichter des Toren Der Idiot und seine Zeit
Inspirierend. Wahrhaftig. Klar. Eine radikale Kritik am Zeitgeist der Gesellschaft – schlagkräftig, ironisch, scharfsinnig. Exzellent.
»Das Beste, was man tun kann: im Atem, in der Umwälzung, im steten Wandel der Werke zu leben. Ihre Höhe immer aufs Neue zu ermessen, sich zu berauschen an der Wirkung gewisser Gipfelstürmereien. Alles Übrige ist Fusel, gemischt aus billigem Schein, aus ebenso unverbindlichen wie unwahrscheinlichen Realien. Etwas, das man getrost den Obdachlosen der Globalität, den Vagabunden der Netze überlassen darf.«
Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale als Sohn eines Lebensmittelberaters geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er 5 Semester Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie in Köln und München. 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Zeitschrift „Theater heute“. 1970-1975 dramaturgischer Mitarbeiter an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin. Botho Strauß ist Mitglied des PEN-Zentrums und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.
Botho Strauß, Lichter des Toren, dtv Taschenbuch (https://www.dtv.de), 176 Seiten, ISBN 978-3-423-14862-7, 12 Euro.
Stefan Maiwald, Meine Bar in Italien Warum uns der Süden glücklich macht
Man fühlt sich sofort wie daheim in Pinos Bar. Und bei und mit Stefan Maiwald.
Pino schenkt in einer jener kleinen und unscheinbaren Bars aus, wie sie über ganz Italien verstreut sind. Wo man irgendwann den Betreiber persönlich kennt und auch seine Stammgäste. Pinos Bar wohnt jene Magie inne, die von Lebenslust, engen Freundschaften und lebensklugen Menschen erzählt. Denn Pino und seine Gäste verstehen etwas von dieser rätselhaften, komplizierten Sache, die wir Leben nennen.
Pinos Bar ist immer offen. Zu Weihnachten und Neujahr, Ferragosto und am Ostersonntag. Ab sechs Uhr morgens, wenn die ersten Fischer aus der Lagune zurückkommen und der Bäcker von nebenan schon sehnsüchtig auf seinen ersten Kaffee wartet. Bis tief in die Nacht, denn Pinos Gäste erzählen Geschichten über unvergessliche Begegnungen, über Zeit, Geld, Glück und Genuss – und geben uns, humorvoll und wie nebenbei, praktische Lebenslektionen, wie wir die schönsten Seiten dieser Welt entdecken können.
Stefan Maiwald, Meine Bar in Italien, Molden Hardcover (https://www.styriabooks.at), 128 Seiten, ISBN 978-3-222-15105-7, 22 Euro.
Georg Klein, Im Bienenlicht
Erzählungen, besinnlich und unheimlich zugleich. Liest man mit heimlichen Vergnügen. Ausgezeichnet mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds.
Nicht weniger als Heimat bedeutet den Heldinnen und Helden dieser Geschichten ihre Arbeit. Sie betreiben hochbetagt eine Dorfschmiede, restaurieren versehrte moderne Gemälde oder gestalten einen Volksmusikabend im Festsaal einer ostdeutschen Gaststätte. Die Künste, die niedrigen wie die höheren, wirken mit an einem anrührend heimeligen Zuhause.
Aber in der Kunst liegt nicht nur Heimat, sondern auch der Keim des Abenteuers. Und so geraten wir auf Geisterjagd in eine ehemalige Papierfabrik, zwischen die hölzernen Säulen der ersten Autobahnkirche Deutschlands und unter das Blätterdach eines geheimnisvoll fruchtbaren Walnussbaums: ins Zwischenreich von Kunst und belebter Natur.
Georg Klein, Im Bienenlicht, Rowohlt (https://www.rowohlt.de), 240 Seiten, ISBN 978-3-498-00305-0, 24 Euro.
Eva Demski, Mein anarchistisches Album
Eva Demskis ganz persönliche Erkundung der Geschichte des Anarchismus. Lesenswert und immer überraschend.
Gott will es so. Der Staat will es so. Dein Vater will es so. Warum aber ist da ein Oberes, Unsichtbares, das mir sagt, was ich zu tun, zu lassen, zu denken, zu glauben, was ich zu arbeiten und wen ich zu lieben habe? Der Anarchismus setzt uns auf ein politisches und philosophisches Karussell, von dem man nicht weiß, wann es anhält. Der Anarchismus gibt sich nicht zufrieden mit dem, was ist. Er will das Ende von Gewalt und von Herrschaft. Er will ein Leben vor dem Tod.
Eva Demski hat die spannende Geschichte des Anarchismus durchstreift – und die überraschenden Ausprägungen, in denen sie ihm begegnet ist, gesammelt. Sie erinnert an Bakunin, Mühsam und Emma Goldman, erzählt von anarchistischen Uhrmachern des 19. Jahrhunderts, von fortschrittlichen Fürsten und Entdeckerinnen wie Isabelle Eberhardt und entdeckt fast vergessene Dichterinnen und Dichter. Aus Porträts, Ortsterminen, Alltagsbeobachtungen, Pamphleten und Liebeserklärungen ist so ein buntes Album mit Momentaufnahmen aus vielen Epochen entstanden – und man staunt darüber, was man mit dem Buchstaben A alles anfangen kann.
Eva Demski, Mein anarchistisches Album, Insel (https://www.suhrkamp.de), 220 Seiten, ISBN 978-3-458-17843-9, 24 Euro.
Carlo Rovelli, Es gibt Orte auf der Welt, an denen Regeln weniger wichtig sind als Freundlichkeit
Jeder Essay eine Perle, schillernd, erhellend und wertvoll!
Newton und sein schwieriges Verhältnis zur Alchemie, Dantes Kosmologie und unser modernes Weltbild, der Schmetterlings-Forscher Nabokov und Lolita sowie die Zweifel des gar nicht so unfehlbaren Genies Einstein: Neben seinen Büchern, die ihn als Physiker zu Weltruhm aufsteigen ließen, hat Carlo Rovelli eine ganze Reihe kurzer Essays geschrieben, in denen er ungewöhnlichen Beziehungen der Wissenschaft zu Literatur, Geschichte, Philosophie, Politik nachgeht. Und immer geht es dabei auch um Humanität. Hier sind sie zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen. Elegant geschrieben, abwechslungsreich, interessant und anregend, verschaffen sie seinen Leserinnen und Lesern einen Eindruck davon, was den wachen Geist des Physik-Stars bewegt.
Carlo Rovelli, Es gibt Orte auf der Welt, an denen Regeln weniger wichtig sind als Freundlichkeit, Rowohlt Taschenbuch (https://www.rowohlt.de), 272 Seiten, ISBN 978-3-499-00730-9, 18 Euro.
Christian Baron, Maria Barankow (Hrsg.), Klasse und Kampf
Erschreckend, wichtig, spannend, erhellend, berührend – also unbedingt lesen!
Was bedeutet es, in einem reichen Land in Armut aufzuwachsen? Zur „Unterschicht“ zu gehören und dafür ausgelacht und ausgegrenzt zu werden? Sich von seinem Herkunftsmilieu zu entfernen, aber die eigenen Wurzeln nicht verraten zu wollen? Und dennoch im neuen Milieu nie wirklich anzukommen?
Deutschland gibt sich gerne als ein Land, in dem Klasse unsichtbar ist. In dem die Chancen auf Bildung und Wohlstand für alle gleich sind. Klasse und Kampf räumt mit diesem Mythos auf. 14 Autor*innen schreiben in persönlichen Essays über Herkunft und Scham, über Privilegien und strukturelle Diskriminierung, über den Aufstieg und das Unwohlsein im neuen Milieu. Zusammen ergeben ihre Stimmen ein vielschichtiges Manifest von großer politischer Kraft.
Mit Beiträgen von Christian Baron, Martin Becker, Bov Bjerg, Arno Frank, Lucy Fricke, Kübra Gümüsay, Schorsch Kamerun, Pinar Karabulut, Clemens Meyer, Katja Oskamp, Sharon Dodua Otoo, Francis Seeck, Anke Stelling, Olivia Wenzel.
Christian Baron, Maria Barankow (Hrsg.), Klasse und Kampf, Claassen Hardcover, (https://www.ullstein-buchverlage.de), 224 Seiten, ISBN 9783546100250, 20 Euro.
Christopher Clark, Gefangene der Zeit
Beeindruckende Essays. Gekonnt, klug und unglaublich lesenswert.
Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? Christopher Clark, der mit seinen Büchern über Preußen und den Beginn des Ersten Weltkriegs Millionen Leser begeistert hat, beweist mit seinem neuen Band, wie vielfältig seine Interessen als Historiker sind. In insgesamt 13 ebenso klugen wie elegant geschriebenen Essays, die hier erstmals auf Deutsch vorliegen, zeigt er, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute.
Christopher Clark, Gefangene der Zeit, DVA (https://www.randomhouse.de), gebundenes Buch, 336 Seiten, ISBN 978-3-421-04831-8, 26 Euro.
Nana Kwame Adjei-Brenyah, Friday Black
Stories mit Herz, ehrlich, brutal, dystopisch – wunderbar. Der Überraschungsbestseller aus den USA.
Selten war ein Debüt ähnlich kraftvoll, mitreißend und ungewöhnlich: Nana Kwame Adjei-Brenyah erzählt in zwölf verstörenden Storys von Liebe und Leidenschaft in Zeiten von Gewalt, Rassismus und ungezügeltem Konsum. Wie fühlt es sich an, im heutigen Amerika jung und schwarz zu sein? Welche Spuren hinterlässt alltägliche Ungerechtigkeit? In einer unkonventionellen Mischung aus hartem Realismus, dystopischer Fantasie und greller Komik findet der US-Amerikaner eine neue Sprache für die brennenden Themen unserer Zeit.
Nana Kwame Adjei-Brenyah, Sohn ghanaischer Eltern, wurde 1990 in Spring Valley, New York, geboren, studierte Fine Arts und unterrichtet heute Creative Writing an der Syracuse University. Sein Debüt »Friday Black«, ein New York Times-Bestseller, errang den PEN-Jean Stein Book Award 2019, stand auf der Shortlist für den Dylan Thomas Prize 2019 und auf der Longlist der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction. Universal Pictures hat sich die Filmrechte an der Titelgeschichte seines Debüts gesichert.
Nana Kwame Adjei-Brenyah, Friday Black, Penguin (https://www.randomhouse.de), Hardcover, 240 Seiten, ISBN 978-3-328-60129-6, 20 Euro.
Ulrich Bröckling, Postheroische Helden - Ein Zeitbild
Anregend und erhellend! Fazit: Der Held lebt. Aber unsterblich ist er nicht! Warum das eine gute Nachricht ist, zeigt dieses fulminante Buch.
Heldenfiguren gelten heute als suspekt: zu viel Pathos, zu viel Männlichkeitsausdünstungen, zu viel moralischer Zeigefinger. Wir leben, heißt es, in postheroischen Zeiten. Gleichzeitig hat sich die Faszination von Heldengeschichten nicht erschöpft, ja, der Fragwürdigkeit heroischer Vorbilder steht ein schier unstillbarer Heldenhunger gegenüber, der reichlich bedient wird. Lebensretter werden ebenso heroisiert wie Klimaaktivistinnen und Whistleblower, Superhelden bevölkern Filme und Computerspiele, und der Spitzensport liefert kontinuierlich heroisierbares Personal. Mit der globalen Konjunktur populistischer Führergestalten kehren schließlich Heldendarsteller auch auf die politische Bühne zurück.
Ulrich Bröckling nimmt diese Gleichzeitigkeit heroischer und postheroischer Leitbilder zum Anlass, den Platz des Heroischen in der Gegenwartsgesellschaft auszuloten. Dazu zeichnet er die Reflexionsgeschichte des Heroismus in der Moderne nach, besichtigt das Figurenkabinett zeitgenössischer Heldinnen und Helden und fragt nach den affektuellen und normativen Dimensionen von Heldenerzählungen sowie nach den Aspekten ihrer Relativierung und Verabschiedung.
Ulrich Bröckling, Postheroische Helden - Ein Zeitbild, suhrkamp (https://www.suhrkamp.de), 277 Seiten, ISBN 978-3-518-58747-8, 25 Euro.
Gary Victor, Dreizehn Voodoo-Erzählungen
Gary Victor at its best. Stories, die es in sich haben.
Inspektor Azémar jagt einen Mörder, der seine Opfer zu Brei stampft. Madame Honoré ahnt nicht, was für ein Gericht ihr Schwiegersohn ihr gerade serviert … Kerou wiederum wird von dem Magier, dem er seine gesamte Karriere verdankt, eine schier unlösbare Aufgabe gestellt, aber für einen Sitz im Senat ist er zu allem bereit … Wie in Der Blutchor entfaltet Gary Victor sein Talent, die Abgründe des Lebens und des Menschen auszuleuchten. Schwarzer Humor vom Feinsten.
Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, ist der meistgelesene Gegenwartsautor Haitis. Mehrere seiner Figuren wurden zu feststehenden Typen. Dieuswalwe Azémar, der Inspektor aus Schweinezeiten (2013), Soro (2015) und Suff und Sühne (2017), ist auch im deutschsprachigen Raum auf dem besten Weg dazu: Alle drei Bücher konnten sich auf der Krimibestenliste (ZEIT bzw. FAS/DLF Kultur) und auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren.
Gary Victor, Dreizehn Voodoo-Erzählungen, Litradukt Verlag (www.litradukt.de), ISBN 978-3-940435-27-9, 9 Euro.
Matthias Debureaux, Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen
Unterhaltsam, böse und klug: Matthias Debureaux über „Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen". Reisen bringt das Bedürfnis mit sich, von seinen Reisen zu erzählen. Früher am gefürchteten Dia-Abend, heute mit einem endlosen Strom aus Posts, Pics und Messages. Mit dem Handbuch von Matthias Debureaux lernt man, wie sich der Erlebnisbericht weiter ausbauen lässt, welche Wendungen uns ins optimale Licht rücken, und zwar noch vor der Abreise, während der Tour und nach der Rückkehr sowieso. Jeder darf sich wiedererkennen; unser Lachen über den albernen Touristen meint uns selbst. Unterhaltsam, böse und klug: In einer Mischung aus Satire und Kulturgeschichte erzählt Debureaux von einer der großen Schwächen unserer Gesellschaft und wie sie auf die Spitze getrieben wird. Matthias Debureaux, Die Kunst, andere mit seinen Reiseberichten zu langweilen, Nagel & Kimche (www.hanser-literaturverlage.de), 112 Seiten, ISBN 978-3-312-01021-9, 12 Euro.
Markus Dosch, Von einem, der auszog, einen Engel zu kaufen
Geschichten des Münchner Autors Markus Dosch – ein literarischer Querschnitt durch sein ereignisreiches Leben. Seine Erzählungen und Kurzgeschichten sind ein Rückblick auf ein segens- und arbeitsreiches Leben, ein Querschnitt durch alle Lebens- und Schaffensphasen: Die Kindheit und Jugend im Dorf Allach bei München in einer schweren Zeit, dann das lange, erfüllte Arbeitsleben mit seinen Alltagsquerelen, unerfüllten Hoffnungen und Phantasien, und schließlich das ideenreiche, träumerische Alter mit seinem inneren Aufbegehren gegen das Schicksal mit all seinen Freuden, Rückschlägen und versäumten Gelegenheiten. Markus Dosch ist nicht nur durch seine Bücher bekannt, sondern auch durch seine witzigen, humorvollen Lesungen, auf denen er viele der hier veröffentlichten Texte mit seinem typisch Münchner Humor vorgestellt hat. Hier also für alle Fans und die, die es hoffentlich noch werden, ein Querschnitt aus dem literarischen Schaffen des Autors aus mehreren Jahrzehnten. Markus Dosch, Von einem, der auszog, einen Engel zu kaufen, edition blaes (www.editionblaes.de), 8,90 Euro. Übrigens: Der Autor verkauft sein Buch direkt – signiert und gern mit Widmung.
Rivka Galchen, Amerikanische Erfindungen
Die Erzählungen der kanadisch-amerikanischen Autorin Rivka Galchen, «Amerikanische Erfindungen» verbinden Psychologie, Philosophie und Naturwissenschaften und führen ihre Protagonisten wie Leser immer wieder auf neues Terrain. So geht es, wenn man lernt, der eigenen Wahrnehmung nicht zu trauen. In einer dieser blühend phantasievollen Storys laufen einer Frau ihre Möbel davon. In einer anderen nimmt die Erzählerin eine Bestellung für Knoblauch-Huhn entgegen, ohne dem hungrigen Anrufer zu sagen, dass sie gar keine Imbiss-Bude ist. In einer dritten Erzählung geht es um Ehe, Beziehung und Einsamkeit. Eine Frau ignoriert beharrlich, dass ihr Mann einen Blog mit dem Namen Ich-hasse-meine-Frau-Dot-Blogspot-Dot-Com betreibt. All diese Storys, die zunächst so tun, als entstammten sie unserem realistischen Alltag, öffnen jählings verborgene Pforten in Schicksale und Welten, die uns nicht so vertraut sind. Ob die davonlaufenden Möbel, die Mysterien des Tunguska-Ereignisses, ein durch Geräusche sprechendes Haus oder die Finessen des Zeitreisens – das Phantasierte und das Erlebte, das Banale und das Erhabene sind in Galchens Welt nur durch eine zart irisierende Wahrnehmung getrennt. Wundersames geschieht, und zugleich stehen die Storys in geheimem Austausch mit kanonischen Erzählungen der Weltliteratur, von Gogols «Nase» über Keats «Ode an eine griechische Urne» bis hin zu Borges' «Aleph». Rivka Galchen, Amerikanische Erfindungen, Rowohlt Hardcover (www.rowohlt.de), 208 Seiten, ISBN 978-3-498-02529-8, 19,95 Euro.
Annette Pehnt, Lexikon der Angst
Faszinierende Lektüre. Ein Stundenbuch für die Manteltasche – kleine Geschichten, skurril und doch immer berührend. Zum Beispiel: Die bedrückende Angst vor der Stille. Die schwarze Angst vor der Einsamkeit. Die verwirrende Angst vor der Ablehnung. Die heiße Angst vor dem Spott. Unsere Angst hat viele Gesichter. Messerscharf ergründet Annette Pehnt unsere Ängste, wie sie uns auf Schritt und Tritt verfolgen, uns lächerlich machen und todtraurig, hellwach und zutiefst unsicher. Sie lähmen uns, halten uns einen Spiegel vor, fressen uns auf und befeuern uns. Die Angst ist ein Alleskönner, deshalb kennt sie jeder. Annette Pehnt, Lexikon der Angst, Piper Taschenbuch (www.piper.de), 176 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-492-30642-3, 8,99 Euro.
Ernst-Wilhelm Händler, Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument
Hoch inspirierenden Kulturtheorie. Literatur kann dem Menschen zu Erkenntnissen verhelfen, die die Wissenschaften nicht liefern können. Insbesondere der Roman als umfassendste Literaturgattung eröffnet uns einen forschenden Blick auf uns selbst und die Gesellschaft. Zur Klärung der Frage, was der Roman für uns leisten kann, zieht Ernst-Wilhelm Händler Ideen und Begriffe aus der Systemtheorie, der Logik, Neurologie und Robotertechnik heran. In kompakter und hochkonzentrierter Form klärt er zunächst die Voraussetzungen des menschlichen Erkenntnisstrebens – Bewusstsein, Sprache, Erinnerung, Wahrnehmung und Gefühle –, um zu einer ganz eigenen, hoch inspirierenden Kulturtheorie zu finden. Ernst-Wilhelm Händler, Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument, S. Fischer (www.fischerverlage.de), Hardcover, ISBN 978-3-10-002199-1, 19,99 Euro.
Robert Gernhardt, Hinter der Kurve - Reisen 1978-2005
Amüsant und interessant zu lesen. Dass der Dichter, Maler und Satiriker Robert Gernhardt zeitlebens ein großer Reisender war, bezeugen viele seiner Texte und Zeichnungen. Darüber hinaus hat er seine Erlebnisse und Beobachtungen in diversen Ländern Europas und der Welt in seinen legendären ›Brunnen-Heften‹ dokumentiert. Eine Auswahl dieser Notate wurde nun erstmals zusammengestellt und ergibt einen Reiseführer der besonderen Art: Quer zum kosmopolitischen Mainstream rückt Gernhardts scharfer, kluger, teils ironischer, teils melancholischer Blick auf Land und Leute, Architektur und Kunst, Natur und Tourismus beliebte Reiseziele in ein ungewohntes Licht. Robert Gernhardt, Hinter der Kurve - Reisen 1978-2005, S. Fischer Verlag (www.fischerverlage.de), Hardcover, ISBN 978-3-10-025513-6, 19,99 Euro.
John Jeremiah Sullivan, Pulphead - Vom Ende Amerikas
In dem Sammelband sind 15 Artikel und Reportagen enthalten, die Sullivan seit 1999 in unterschiedlichen Publikationen veröffentlicht hat. Ein fantastisches Panoptikum der Vereinigten Staaten, von dem man immer wieder überrascht wird. Und gespannt das nächste Essay angeht. Kann man ganz Amerika in ein Buch packen? Geschichte und Gegenwart? Popkultur und Frömmigkeit? Glänzende Oberfläche und enttäuschte Versprechen? Mit Pulphead hat John Jeremiah Sullivan bewiesen, dass das möglich ist. In der Tradition von Meistern wie Tom Wolfe und Hunter S. Thompson verwischt er die Grenze zwischen Literatur und Journalismus, Erzählung und Reportage, Hochliteratur und Unterhaltung, Hemingway und Hollywood. Wie in einem Panoptikum entsteht aus Artikeln über Axl Rose, christliche Rockfestivals, Reality TV, die Tea-Party-Bewegung, vergessene Naturforscher und den heruntergekommenen Süden das Panorama eines Landes, das der Rest der Welt immer weniger versteht. Pulphead löste im Herbst 2011 in den USA wahre Jubelstürme aus: Das Buch fehlte auf keiner Jahresbestenliste, Kritikerpapst James Wood schrieb im New Yorker, genau so müsse man im neuen Jahrtausend schreiben und verglich Sullivan mit dem großen David Foster Wallace. John Jeremiah Sullivan, Pulphead - Vom Ende Amerikas, edition suhrkamp (www.suhrkamp.de), Klappenbroschur, 416 Seiten, ISBN 978-3-518-06890-8, 20 Euro.
Christian Welzbacher, Meine Welt ist nicht von Pappe Ein Paul Scheerbart-Lesebuch
Diese Sammlung ist wahrlich nicht von Pappe, sondern brilliant, erfrischend skurril und äußerst unterhaltsam. Anders als in Brehmers »Die Welt in 100 Jahren«, das 1910 erschien, galt Paul Scheerbarts Interesse nicht wissenschaftlich fundierten Zukunftsszenarien, sondern dem Urgrund des Seins. Des Menschen Größe wie seine Kleinheit verdichtet er literarisch im Zentrum seines Werks und in der Öffentlichkeit stellt er beides durch die eigene Person zur Schau. Scheerbarts Lebens- und Arbeitsstil als Bohemien und heiliger Trinker galt Zeitgenossen als Naturereignis. Doch Paul Scheerbart, geboren 1863 in Danzig, gestorben 1915 in Berlin, gehörte trotz seiner Trinkerei zur intellektuellen Elite der Weimarer Zeit. Er saß in der Tafelrunde von August Strindberg, die sich regelmäßig im »Schwarzen Ferkel« traf und zu der auch Knut Hamsun, Richard Dehmel und Edvard Munch gehörten. Er ließ sich am berühmten »Verbrechertisch« von Otto Erich Hartleben nieder und verkehrte mit Johannes Trojahn, dem Herausgeber des Kladderadatsch. Er war befreundet mit Herwarth Walden und Alfred Kubin, mit Bruno Taut und seinen Mitstreitern von der »Gläsernen Kette«. Neben seinen Aufzeichnungen zum »Perpetuum Mobile, seinen Notizen über die »Glasarchitektur« und seiner Flugschrift zum »Luftmilitarismus« finden wir in diesem Band auch einige Texte von Freunden und Bewunderern, u. a. von Erich Mühsam, Walter Benjamin und Ernst Rowohlt. Christian Welzbacher, Meine Welt ist nicht von Pappe, Parthas Verlag Berlin (www.parthasverlag.de), 240 Seiten, ISBN 978-3-86964-062-4, 19,90 Euro.
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