Philippe Lacoue-Labarthe/Jean- Luc Nancy, Der Nazi-Mythos
Wertvoll, erhellend und (leider) immer aktuell.
Was macht den Kern der NS-Ideologie aus? In ihrem Essay über den Nazi-Mythos zeigen Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy: Es handelt sich um ein Identitätsprojekt, um den zwanghaften Versuch, sich in der reinen und konkreten Identität eines Volkes oder einer Rasse selbst zu verwirklichen, betrieben mit den Mitteln mythischer Identifizierung.
Die Autoren legen die philosophischen Wurzeln und die innere Logik der faschistischen Selbstmythologisierung frei und machen deutlich, dass der Nazi-Mythos kein irrationaler Rückfall war, sondern eine spezifisch moderne Form der politischen Identitätsbildung. Der erstmals 1991 erschienene Text, entstanden aus einem Vortrag von 1980, hat nichts von seiner analytischen Schärfe eingebüßt. Das Buch hilft zu verstehen, wie autoritäre Bewegungen auch heute noch mythische Narrative von Identität und Reinheit für ihre Zwecke einsetzen.
Philippe Lacoue-Labarthe (1940-2007) und Jean-Luc Nancy (1940-2021) zählen zu den wichtigsten Autoren der neueren französischen Philosophie. Beide lehrten an der Universität Straßburg, wo sie in enger intellektueller Verbindung eine originelle Neuinterpretation der deutschen philosophischen Tradition entwickelten. Ihre gemeinsamen Arbeiten untersuchten die sprachtheoretischen Grundlagen der Lacan‘schen Psychoanalyse (Le titre de la lettre, 1973), prägten maßgeblich die französische Auseinandersetzung mit der deutschen Romantik (L‘Absolu littéraire, 1978) und unternahmen eine Neubestimmung des Begriffs des Politischen (Le ›retrait‹ du politique, 1983). An dem von ihnen gegründeten Centre de recherches philosophiques sur le politique verfolgten sie, wie in ihren individuellen Werken, die Verschränkung ästhetischer und politischer Fragestellungen in Begriffen wie Gemeinschaft, Subjektivität, Mythos, Mimesis und Repräsentation.
Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy, Der Nazi-Mythos, tentare Paperback (https://tentare.de), 68 Seiten, ISBN 978-3-9824105-6-2, 7,80 Euro.
Fritz Breithaupt, Das narrative Gehirn Was unsere Neuronen erzählen
Anregend und intelligent. Eine Neubestimmung des Menschen als narratives Wesen.
Wer in Geschichten verstrickt ist, lebt intensiver – ich erzähle, also bin ich. Doch nicht nur das eigene Leben wird als Narration prägnanter. Mittels Erzählungen gelingt es uns auch, die Erfahrungen eines einzelnen Menschen zu solchen von vielen anderen zu machen. Dazu müssen unsere Gehirne und die Weisen, wie wir Geschichten erzählen, aufeinander abgestimmt sein. Doch wie genau geschieht das? Fritz Breithaupts brillantes Buch unternimmt eine Neubestimmung des Menschen als narratives Wesen. Narratives Denken, so zeigt er, wird stets mit spezifischen Emotionen belohnt, und das heißt: Wir leben, wie wir leben, weil wir diesen Belohnungsmustern folgen. In Narrationen kann darüber hinaus aber auch immer alles anders kommen, und ebendies erlaubt uns den Aufbruch zu neuen Ufern.
Fritz Breithaupt, Das narrative Gehirn, Suhrkamp Taschenbuch (https://www.suhrkamp.de), 368 Seiten, ISBN 978-3-518-30062-6, 20 Euro.
Erich Neumann, Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins
Beachtliches Werk, interessante Gedanken, lesenswert.
Vor dem Hintergrund existenzieller Herausforderungen schrieb Erich Neumann dieses frühe Werk, das hier erstmals auf Deutsch ediert vorliegt. Das jüdische Überleben beleuchtet er sowohl aus physischer als auch aus spiritueller und psychologischer Perspektive. Neumann glaubt, dass moderne Juden wieder lernen müssen, was ihre Vorfahren während des babylonischen Exils verloren haben: die Fähigkeit, dem Heiligen direkt zu begegnen, Offenbarungen zu empfangen und zu prophezeien. Er stützt sich auf C. G. Jungs Lehren und Martin Bubers chassidische Schriften und befürwortet Alternativen zum Legalismus und zur frauenfeindlichen Voreingenommenheit.
Diese Ideen nehmen Neumanns spätere Werke vorweg, darunter Tiefenpsychologie und neue Ethik, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins und Die große Mutter. Das Konzept der Ego-Selbst-Achse, Neumanns charakteristischer Beitrag zur analytischen Psychologie, wird schon hier vorgestellt und umfassend entwickelt.
Erich Neumann (1905–1960), Philosoph, Arzt, Psychologe, Schriftsteller, gilt als der bedeutendste Schüler von C. G. Jung. Er wurde in Deutschland geboren, wo er Philosophie, Psychologie und Medizin studierte, in der Hoffnung, Psychoanalytiker zu werden. Er zog 1933 nach Zürich und 1934 nach Israel, wo er als Psychoanalytiker praktizierte.
Erich Neumann, Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins, Schwabe Verlag (https://schwabe.ch), 508 Seiten, ISBN 978-3-7574-0143-6, 70 Euro.
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